So, und jetzt wird mal Klartext gesprochen. Über Public Viewing, über alkoholisierte Halbstarke und die, die es noch werden wollen.
Wir schreiben Freitag den 18. Juni 2010 irgendwo in Deutschland. Der Tag beginnt wie jeder andere auch – aufstehen, frühstücken, zähneputzen, doch irgendwas ist anders als sonst. Auf den Straßen wehen Flaggen in schwarz-rot-gold, Autospiegel tragen Bezüge in eben diesen Farben und der Apotheker oder die Bäckerin um die Ecke tragen weiße Trikots mit dem Bundesadler auf der Brust.
Ob in der Straßenbahn, an der Universität oder im Wartezimmer in der Zahnartztpraxis – überall steht die eine Frage im Mittelpunkt: „Und, wo guckst du heute Deutschland?“
Opelaner verschieben ihre Arbeitsschichten, fangen an früher zu arbeiten, um um 13:30 Uhr an irgendeinem überfüllten Platz Bochums zu stehen und gemeinsam mit der Masse das zur Zeit so liebgewonnene Public Viewing zu erleben.
Deutschland gegen Serbien – diese Partie ist der Grund für die anomalien des deutschen Alltags. Eine Wanne-Eickeler Schule gibt ihren Schülern einen verkürzten Schultag. Feierabend schon um 13:10, damit jeder pünktlich zur Nationalhymne dabei sein kann.
Was passiert dann um 13:30 Uhr in Deutschland? Tausende von Menschen, überwiegend Teenager in Trikot, Mütze und Schal, alles in schwarz-rot-gold, drängen sich vor die Monitore und Leinwände in den Städten. Zuhause gucken ist out. Man guckt nun im Rudel, teileweise mit Menschen, die man auf der Straße normalerweise keines Blickes würdigen würde. Aber plötzlich ist alles anders. Gut die Hälfte der Rudelgucker gehören dem weiblichen Geschlecht an, von der anderen Hälfte haben 30% mit Fußball normalerweise nichts am Hut. Doch man philosophiert über den König Fußball – zumindest versucht man es.
Auffällig dabei ist, dass die am stärksten geschminkten, die am tollsten verkleideten oder die lautesten Schreier von Fußball nicht viel verstehen. Aber muss man das überhaupt? Wozu soll man wissen, wer Tim Wiese ist, oder warum Jogi Löw Klose spielen lässt und nicht Cacau oder Kießling? Im Mittelpunkt steht das Event, wie es im Neudeutschen so schön heißt. Die Party und nicht die Partie stehen im Vordergrund. Und so sieht man nach dem Führungstreffer der Serben nur wenig traurige Gesichter in den Menschenmassen.
Statdessen stößt man immer wieder auf alkoholisierte Halbstarke, die ihre ersten Erfahrungen mit Bier und Schnaps machen. Ein Graus für den Fußballintelektuellen. Wäre er doch lieber mit seinen vier Buchstaben auf der eigenen Couch geblieben und hätte er doch auch mit ein paar ausgewählten Freunden in gelassener Atmosphäre das Spiel vor dem heimischen Fernseher geschaut.
Um 15:17 Uhr, immernoch an diesem besagten Freitag, scheint das Land wieder zu erwachen. Der Verkehr fließt wieder in alle Richtungen. Deutschland hat zwar verloren und muss um den Einzug ins Achtelfinale bangen, aber Traurigkeit und Enttäuschung ist nur in wenigen Gesichtern zu erkennen. Meist in denen von Menschen ganz ohne Kluft, oder mit einem dezenten schwarz-rot-goldenen Kettchen am Hals.
In den Gesprächen auf den Straßen hört man nur wenig Spielanalysen oder kompetente Aussagen zum Spiel, sondern wieder die vertraute Frage: „Und, wo guckst du nächste Woche Deutschland?“