Die K.o.-Runden-Zeit bei der WM ist angebrochen. Das bedeutet, es wird wieder spekuliert und taktiert, gehofft und gebangt:
Gibt es Elfmeterschießen? Deutschlands Achtelfinalgegner England (27. Juni, 16.00 Uhr in Bloemfontein) hat den Ruf weg, mit
Abstand die Nation der schlechtesten Elfmeterschützen zu sein. In einer bei Wikipedia zusammengetragenen Weltrangliste im Elfmeterschießen liegt England bei den Männern auf Rang 86 (zum Vergleich: Deutschland ist Achter). Doch woher kommt dieser Ruf? Rudelbilder blickt zurück auf die englischen Rendezvous mit dem Kreidepunkt bei großen Turnieren.
4. Juli 1990, WM-Halbfinale, England-Deutschland 4:5 n.E.: Ein Treffer per Freistoß-Bogenlampe von Andreas Brehme erfreut Fußball-Deutschland, aber zehn Minuten vor Schluss der regulären Spielzeit ist Englands Tormaschine Gary Lineker mit dem 1:1-Ausgleich zur Stelle. Im Elfmeterschießen kann Bodo Illgner, der schon in die Ecke unterwegs war, einen kraftvollen Vollspannschuss des vierten englischen Schützen Stuart Pearce mit den Beinen parieren. Ein sympathischer Oberlippenbart namens Olaf Thon trifft danach für Deutschland, ehe Chris Waddle die Partie entscheidet, indem er den Ball über den Kasten jagt.
22. Juni 1996, EM-Viertelfinale England-Spanien 4:2 n.E.: Nach einem torlosen Unentschieden im Wembley-Stadion muss das Elfmeterschießen entscheiden. Während die Fans „Football’s coming home“ singen, läuft Torjäger Alan Shearer zum Punkt. Er bringt England mit einem Schuss ins linkere obere Eck in Führung. Direkt anschließend pfeffert Spaniens Fernando Hierro seinen Elfmeter an die Latte und bringt England damit in eine komfortable Position. Als dann auch noch David Seaman einen schwachen Elfmeter von Miguel Angel Nadal hält, ist das Thema durch. Bemerkenswert noch: Als dritter Schütze für England tritt ein Pechvogel von 1990, Stuart Pearce, an und verwandelt überaus sicher flach rechts unten – anschließend brüllt sich Pearce die Anspannung von der Seele. Er hat den Fluch besiegt.
26. Juni 1996, EM-Halbfinale England-Deutschland 5:6 n.E.: Alles scheint für England zu laufen, als Shearer die „Three Lions“ nach drei Minuten in Führung köpft. Doch Stefan Kuntz gleicht schnell für Deutschland aus, und so kommt es, wie es kommen muss: Elfmeterschießen. Auf beiden Seiten treffen alle fünf Schützen, unter anderem auch wieder Stuart Pearce. Als sechster für England tritt ein gewisser Gareth Southgate an. Flach, aber nur knapp links neben der Tormitte ist der Ball eine sichere Beute für Torwart Andreas Köpke. Andreas Möller besiegelt die englische Niederlage anschließend mit einem demütigenden Schuss oben in die Mitte.
30. Juni 1998, WM-Achtelfinale England-Argentinien 5:6 n.E.: Ein erinnerungswürdiges Duell (der junge Michael Owen betritt mit seinem Traumtor die große Fußballbühne, und David Beckham verlässt das Spielfeld als Buhmann wegen einer absolut unnötigen gelb-roten Karte) muss bei 2:2 ins Elfmeterschießen. Die jeweils zweiten Schützen Hernan Crespo und Paul Ince scheitern mit nahezu identischen Schüssen nach rechts auf halbe Höhe. Als letzter Schütze läuft David Batty an. Er schießt halbhoch und fast mittig. Carlos Roa im argentinischen Tor hat die Fäuste oben und wehrt ab. Wieder ein Genickschlag für England.
24. Juni 2004, EM-Viertelfinale England-Portugal 7:8 n.E.: Nach Verlängerung steht es 2:2, als wieder die Schüsse vom Punkt entscheiden müssen. Als erster tritt David Beckham an, eigentlich ein Künstler am ruhenden Ball. Entweder aufgrund eines Platzfehlers oder in einem Versuch, ein Field Goal beim American Football zu erzielen: Beckham drischt den Ball übers Tor. Ein Fehlschuss von Rui Costa gleicht das Elfmeterschießen aus, in dem übrigens Frank Lampard, John Terry und Ashley Cole aus dem heutigen Kader erfolgreich verwandeln. Ein zu mittiger Flachschuss vom siebten Schützen Englands, Darius Vassell, bedeutet dann allerdings das Aus für sein Team.
1. Juli 2006, WM-Viertelfinale England-Portugal 1:3 n.E.: Nach einem turbulenten, aber torlosen Viertelfinale, bei dem unter anderem Wayne Rooney vom Platz geflogen war, kommt es in der Gelsenkirchener Arena zum Elfmeterschießen. Englands Fans stehen in der Nordkurve und müssen mitansehen, wie unmittelbar vor ihren Augen Frank Lampard mit einem Sicherheitsschuss nicht den Weg ins Netz findet. Portugals folgende Schützen, Hugo Viana und Petit, setzen den Ball an den Pfosten bzw. vorbei. Die „Three Lions“ sind damit eigentlich auf der Siegerstraße. Eigentlich. Denn ein nervöser Steven Gerrard vergibt die Chance zur Führung mit einem Schuss nur ein bisschen rechts neben der Mitte. Nachdem Helder Postiga den Job für Portugal endlich mal erfolgreich verrichtet hat, kommt Jamie Carragher an die Reihe. Jener Jamie Carragher, der bei der WM 2010 vor allem dadurch aufgefallen ist, dass er sich über den Ball Jabulani beschwert hat. Wahrscheinlich ist auch schon bei Carraghers Fehlschuss 2006 der Ball schuld gewesen. Carragher will entweder clever sein oder den Mist einfach nur schnell beenden – jedenfalls schießt er vor dem Pfiff des Schiedsrichters. Im zweiten Anlauf bringt er den Ball nicht am portugiesischen Helden Ricardo vorbei. Für Cristiano Ronaldo war finale Elfmeter und Englands-Aus nur Formsache.
Und 2010?
Englands Torwart David James hat vorsichtshalber schon einmal angekündigt, gut auf ein Duell vom Punkt verzichten zu können. Einer Studie zufolge versagen die Engländer deshalb so häufig beim Elfmeterschießen, weil sie besonders viele Starspieler in ihren Reihen haben, auf denen der Erfolgsdruck noch viel stärker lastet. Weil sie vor der Versagensangst fliehen wollten, liefen sie auch besonders schnell nach dem Pfiff des Schiedsrichters an – statistisch gesehen eine Fehlerquelle. Starspieler hat England auch diesmal wieder viele. Und doch gibt es ein Argument dafür, dass die Engländer 2010 nicht zu den Elfmeter-Deppen werden: die große Erfahrung.
Dem englischen Daily Mirror zufolge sind die fünf englischen Schützen schon im Voraus festgelegt worden: Frank Lampard (FC Chelsea), Steven Gerrard (FC Liverpool), Wayne Rooney (Manchester United), James Milner (Aston Villa) und Gareth Barry (Manchester City). Darüber hinaus sollen Elfmeter im englischen Lager minutiös trainiert worden sein, wie der englische Co-Trainer, ein gewisser Stuart Pearce, zu berichten weiß. Mit Lampard, Gerrard, Milner (der im Halbfinale der U21-Europameisterschaft 2009 bei einem Elfmeter ausgerutscht war und den Ball weit weg vom Tor schoss, siehe Video) sind unter diesen fünf Schützen gleich drei, die schon einmal bei großen Turnieren im Elfmeterschießen versagt haben. Mit schon John Terry, Jamie Carragher und Ashley Cole stehen weitere Spieler in der englischen Startelf, die schon gemischte Elfmeter-Erfahrungen mit den drei Löwen auf der Brust gemacht haben. (Zum Vergleich: In der deutschen Elf steht mit Lukas Podolski gerade ein Spieler, der schon Turnier-Erfahrung mit Elfmeterschießen hat). Und genau in dieser Elfmeter-Erfahrung wird der Vorteil für England bestehen, sollte es 2010 wieder ins Elfmeterschießen müssen: Es hat einige Leute in seinen Reihen, die schonmal Elfmeter-Deppen waren. Und das Beispiel Stuart Pearce zeigt, dass ein Elfmeter-Depp beim nächsten Mal wahrscheinlich viel sicherer wieder zum Punkt marschiert.